Brave Kuh World – Kulturwissenschafter Bernhard Kathan im Interview

Illustration: Johannes Figlhuber.

Illustration: Johannes Figlhuber.

Der Rinderhaltung verdankt die Menschheit bereits den Stacheldraht und die elektronische Fußfessel. Längst lassen wir uns auch wie Milchkühe bewirtschaften, meint der Kulturwissenschafter Bernhard Kathan. Ein Gespräch über Herrschaft, Kontrolle und Rinderhaltung.

Unsere Gesellschaftsordnung und das Herdenmanagement in der modernen Milchkuhhaltung haben immer mehr gemein. Zu diesem Schluß kommt Bernhard Kathan in seinem Buch »Schöne neue Kuhstallwelt«. Im Stall wie in der freien Wildbahn unserer Hochleistungsökonomie herrsche nur scheinbar Freiheit. Tatsächlich machen uns die gegebenen Wahlmöglichkeiten bloß effizienter zu bewirtschaften. Ein Gespräch mit dem Vorarlberger Kulturwissenschafter Kathan.

Der Kulturwissenschafter Bernhard Kathan widmet sich der "Schönen neuen Kuhstall-Welt" (Foto: Thomas Weber)

Der Kulturwissenschafter Bernhard Kathan widmet sich der „Schönen neuen Kuhstall-Welt“ (Foto: Thomas Weber)

Biorama: Die Kuh ist seit jeher ein Produkt des Menschen und wie alle Nutztiere eine durch die gezielte Ausmerzung der Zucht geschaffene Kreatur. Jahrtausende lang lebten Mensch und Rind in nächster Nähe und engem Kontakt beieinander, noch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es Sonntagsfotografien, auf denen die Bauernfamilien mit ihren prächtigsten Kühen posieren als handelte es sich um Familienmitglieder. Kleine Bauern besaßen oft nur eine Kuh. Unsere heutigen Rinder hingegen schildern Sie als lebendiges Labor, mit dessen Hilfe sich Silage und Sojaschrot in den Rohstoff Milch verarbeiten lassen. Moderne Zuchtziele sind angepasst an maschinelle Bewirtschaftung – »Melkmaschinentauglichkeit« etwa ist ein absolutes Muss. Im kollektiven Bewusstsein allerdings ist die Kuh immer noch ein glockenbehangenes Geschöpf, das auf hochalpinen Wiesen weidet, im Einklang mit der Natur und in Symbiose mit dem Menschen. Liegt diese Diskrepanz zwischen veralteten Vorstellungen und der Realität bloß am Marketing der Milch und Fleischlobby, oder haben wir es nicht auch mit einem sehr tief sitzenden romantischen Bedürfnis der Konsumenten zu tun, die nicht wahrhaben wollen, welches High-Tech-Produkt Milch und Fleisch längst geworden sind?

Bernhard Kathan: Ursache dafür ist ein Mix aus Werbung, Vermarktung und fehlender Erfahrung im Umgang mit Rindern. Die wenigsten Menschen wissen heute über Rinderhaltung Bescheid. Die wenigsten kennen den Unterschied zwischen Mutterkuhhaltung, die ja nur der Fleischproduktion dient, und Milchwirtschaft. Deshalb greifen sie auf diese Werbebilder zurück. Die Lebensmittelindustrie muss zum Verkaufen Vertrautes zitieren. Häuslichkeit, was Heimeliges, das kommt gut an. Sennereien bilden auch heute noch behornte Kühe ab, auf Käseverpackungen sehen wir den Hirten mit seiner Kuh. Das ist Werbung. Tatsächlich funktioniert das längst anders. Selbst die Tierschutzbewegung, die ganz bewusst die härtesten Bilder aus Ställen zeigt, führt nicht vor wie moderne Laufställe funktionieren. Sie zeigt ebenso Bilder, die auf andere Bilder aufsetzen und aufbauen, die zumindest antiquiert sind.

Erst in Ihrem Buch habe ich erfahren, dass es eine eigene, auf die Kuhfotografie spezialisierte Profession gibt. Nach welchen Kriterien wird denn das professionelle Bild der Kuh geprägt?
Bernhard Kathan: Beim Hobbyfotografen dominieren zwei Grundmotive: die niedliche Kuh und die dämliche Kuh. Die Profifotografen arbeiten für und innerhalb der Zuchtbewegung. Ihnen geht es um die Darstellung von Leistungsmerkmalen. Sie inszenieren die Kühe vor drei, vier Fototapeten auf Planen mit Fokus auf Euter, Euterform, die Ausprägung der Adern auf dem Euter. Kopf- und Ohrenstellung sind bezüglich Vitalität von Bedeutung. Gesagt werden muss, dass Züchter auch Fetischisten sind. Bei Züchtern sind diese Hochleistungskühe sehr hoch besetzt. Es ist nicht anders als bei Rassehunden.

Eine moderne Hochleistungskuh gibt täglich bis zu 40 oder mehr Liter Milch. Sie schreiben, dass Kühe mit halber Milchleistung eigentlich wirtschaftlicher wären.
Bernhard Kathan: Hochgezüchtete Tiere verursachen höhere Tierarztkosten. Außerdem ist eine gewisse Milchleistung nur mit erhöhtem Kraftfuttereinsatz und überproportional steigendem Nebenaufwand machbar – und damit mit höheren Kosten  verbunden, nicht zuletzt mit einem höheren Energieaufwand. Lauf Alfred Haiger, dem ehemaligen Vorstand des Instituts für Nutztierwissenschaften an der BOKU in Wien, gibt die ideale Kuh im Jahr zwischen 5.000 und 7.000 Litern Milch, zahllose Faktoren freilich mitgedacht.

In den frühen Schlachthöfen in Chicago gab es eigene Besuchergalerien, von denen aus man die Schlachtungen wie die Verarbeitung der Tiere verfolgen konnte. Das ist heute undenkbar. Ans Schlachten wollen wir möglichst gar nicht mehr denken müssen und kaum jemand weiß, wie es im Inneren eines modernen Stalls zugeht.
Bernhard Kathan: Stimmt. Allerdings hat erst vor Kurzem Gion A. Caminada, einer der wichtigsten Schweizer Architekten, einen begehbaren Laufstall mit Besuchergalerie entwickelt. Dieser Stall versteht sich als Schnittstelle zwischen Landwirtschaft und ökonomisch-kulturellem Umfeld, das neu entwickelt werden muss. Ein interessanter Aspekt dabei ist, dass die Kühe in diesem Laufstall behornt sind. Viele Laufstallbetreiber stellen nämlich in Abrede, dass das möglich ist: Kühe mit Hörnern in einem Laufstall zu halten. Dabei sind das Problem ja nicht die Hörner, sondern dass die Tiere in der mechanisierten Rinderhaltung keinen Menschenkontakt mehr haben. Das Rind ist ein Haustier, ein Haustier braucht aber Kontakt mit dem Menschen.

Reden wir von einem verwilderten Nutztier?
Bernhard Kathan: Ja, in der Mutterkuhhaltung können die Tiere wirklich verwildern. Da bleiben die Kälber bis zur Schlachtung bei der Kuh auf der Weide. In der intensivierten Milchwirtschaft aber haben wir es mit höchst neurotischen Tieren zu tun, mit sinnlosem Fluchtverhalten und ähnlichen Begleiterscheinungen.

Die Autorin Marlen Haushofer hat in ihrem Roman »Die Wand« ein Szenario geschildert, in dem das Schicksal des mutmaßlich letzten Menschen auf Erden von der Fruchtbarkeit und Trächtigkeit der letzten Kuh abhängt. Stirbt sie, dann fällt der Mensch auf die Zivilisationsstufe des Ackerbauern, oder gar des Jägers und Sammlers zurück. Ihrer Kuhstallweltlogik folgend ist es nur eine Frage der Zeit, bis die letzte Kuh geschlachtet wird – weil wir Milch womöglich bald als 100%iges Produkt von organischen Maschinen beziehen werden.
Bernhard Kathan: Ja, auch Fleisch lässt sich in 20 Jahren serienreif mit den nötigen Omegafettsäuren im Labor herstellen. Die letzte Kuh wird dann verschwinden, wenn neue Technologien das Rind überflüssig machen. Milch und Fleisch werden sich in absehbarer Zeit in großtechnischen Labors produzieren lassen. In meinem Sinn ist die letzte Kuh dann schlachtreif, wenn die Rinderhaltung zu 100 Prozent durchorganisiert und technisiert ist. Das gilt, fürchte ich, letztlich auch für den Menschen.

Fakt ist, dass sich heute auch Artenschutz und Vielfalt offensichtlich ausschließlich ökonomisch rechtfertigen lässt. Im ökonomischen Bedarfsfall kann man aus dem dadurch erhaltenen Genpool schöpfen. Was bedeutet denn der durchtechnisierte Milchproduktionsapparat für den Artenschutz?
Bernhard Kathan: Der Alpenraum spielt eine gewisse Sonderrolle. Hier konnten gewissen Flächen historisch überhaupt nur mit Hilfe des Rindes besiedelt werden. Das Rind war ein Energiespeicher, um über den Winter zu kommen. Im Alpenraum ist wirklich intensive Landwirtschaft topographisch undenkbar. Anders sieht es in großen Flächen Argentiniens oder Norddeutschlands sowie den Niederlanden aus. Das beginnt schon bei den Monokulturen des Maisanbaus: Diese Landschaft und ihre Landwirtschaft setzen bei Rindern Maschinentauglichkeit und absolute Einförmigkeit voraus.

Werden wir Kühe in Zukunft nur noch in hochalpinen Freilichtmuseen oder im Zoo beobachten können?
Bernhard Kathan: Man kann die Kuh nicht isoliert betrachten. Im Alpenraum gibt’s heute tatsächlich wesentlich mehr Rinderrassen als vor 100 Jahren: vom Hobbyrind wie das Tuxer Rind, das sich manch einer zum Vergnügen hält über Galloways und schottische Hochlandrinder. Den enormen Rückgang der Artenvielfalt gibt es weniger in der Rinderhaltung als auf den Flächen, auf denen das nötige Futter für das Rind produziert wird. Die Schweizer Landwirtschaftskammern setzen deshalb aktuell in einer Infokampagne auf die Bedeutung des Rindes als Kulturträger. Ob das der landwirtschaftlichen Realität entspricht, ist fraglich.

Letztlich gehen die Analogien zwischen dem modernen Herdenmanagement in Rinderställen und kapitalistischer Gesellschaft davon aus, dass es da wie dort gefühlte Bewegungsfreiheit gibt und den Individuen einige Wahlmöglichkeiten des Konsums offen stehen. Es wird also Freiheit suggeriert, wohingegen wir es eigentlich bloß mit bürokratisch vordefinierten Modi zu tun haben, die auf den maximalen Leistungsoutput fokussieren. Bei Rindern hat diese sanfte Lenkung, das »Herdenmanagement«, allerdings massive Auswirkungen auf das Sozialverhalten der Tiere.
Bernhard Kathan: In Milchviehlaufställen leiden die Tiere unter einem permanenten Stress. Laufställe werden oft als artgerechte Tierhaltung missverstanden. Sie verdanken sich einzig ökonomischen Überlegungen, die sich in verwandter Form auch im Humanbereich zunehmend beobachten lassen. Der moderne Mensch verwechselt Bewegungsfreiheit, letztlich das Ablaufen vorgegebener Routen, mit Freiheit. IKEA ist Herdenmanagement pur. Es gibt Pfeile, alles basiert auf Wahrnehmungspsychologie und der Befriedigung in der Warenausgabe. Ein perfektes System.

Über den Kuhstall-Kapitalismus schreiben Sie: »Der Kunde ist nicht König, sondern ein Objekt der Steuerung«, und knüpfen an anderer Stelle an den Bürokratiebegriff des Soziologen Max Weber an. Er sieht im neutralen Fachmann, in der absoluten Bürokratie, welche anteilnahmslos Abläufe nach genau festgelegten, zielgerichteten Kriterien exekutiert, die ultimative Herrschaftsform – also auch im geschlossenen Kuhstallsystem? Bewegen wir uns ihrer Analogie folgend auf die totale Bürokratie zu?
Bernhard Kathan: Max Weber hat vieles nicht sehen können. Etwa, dass sich die Bürokratie zu einem interaktiven, maschinengesteuerten System wandeln würde, welches in absehbarer Zeit in der Lage sein wird, unmittelbar, nahezu zeitgleich zu reagieren. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass der Bürokratie Menschen wie Orte abhanden kommen. All das steht heute noch am Anfang. Pflegedokumentation ist ein gutes Beispiel. Wenn wir die technologischen Möglichkeiten denken, sind das heute ja alles noch steinzeitliche Programme und Anwendungen. Das wird sich rasch ändern. Junge Krankenschwestern haben mit Pflegedokumentationssystemen kaum ein Problem. Die verstehen nicht einmal, dass solche Systeme eigentlich auch zu ihrer Überwachung, ihrer eigenen Bewirtschaftung dienen. Krankenschwestern mit sehr langer Berufserfahrung, die bald in Pension gehen, können etwa wahrnehmen, dass ein Gerät ihren Umgang mit Patienten plötzlich grundlegend verändert, dass sich ein Gerät zwischen sie und den Patienten schiebt. Dass jede Maschine präfiguriert. Dass all diese Präfigurierungen an ihren Wahrnehmungen vorbeigehen.

Sie meinen: Durch Datenerfassen geht Wissen verloren?
Bernhard Kathan: Ja, es gibt immer mehr Daten, aber immer weniger erfahrungsbezogenes Wissen.

Alles, was Sie kritisieren, ist aber auch sehr bequem. Frei nach Aldous Huxley fügen wir uns aus Bequemlichkeit wie Milchkühe in die Knechtschaft der »Milchleistungsgesellschaft«. Ihr Buch schließt mit der Feststellung „Der moderne Mensch konsumiert seine Unterwerfung“. Gibt es einen – realistischen – Ausweg aus diesem dystopischen Zukunftsszenario?
Bernhard Kathan: Nein. Der Philosoph Vilém Flusser hat geglaubt, es gäbe einen Ausweg. Noch sei Zeit genug. Und ich glaube das nicht. Bestenfalls gibt es so etwas wie einen individuellen Spielraum, aber auch da sehe ich eher schwarz. Man darf nicht vergessen, dass alle neuen Herrschaftstechnologien an Versprechungen geknüpft sind. Misstrauen zunehmend mehr Menschen solchen Versprechungen, dann öffnet sich damit bereits das nächste Marktsegment. Es ist alles Teil des Markts.

Zum Abschluss noch ein Blick in die Zukunft: Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt mittlerweile in Städten. Die Zukunft der Agrikultur verlagert sich ins Urbane. Werden die Milch und das Fleisch der Zukunft in Städten produziert werden?
Bernhard Kathan: Das ist nicht neu. Im Berlin der 30er Jahre gab es in der Stadt große Milchviehbetriebe. Futter ließ sich eben leichter transportieren als Milch. Es ist heute kein Problem mehr, in völlig künstlichen Habitaten auf Industriegeländen Rinderhaltung zu betreiben. Ein gutes Beispiel ist der größte Rinderstall der Welt. Er befindet sich in der saudiarabischen Wüste und in diesem Stall stehen 35.000 Holsteinkühe.

Das muss ein wahnsinniger Energie- und Wasseraufwand sein, um in der Wüste 1 Liter Milch zu erzeugen.
Bernhard Kathan: Der Grundwasserspiegel ist dort enorm gesunken. Man braucht eine unvorstellbare Menge an Wasser bloß für die Kühlung der Milch. Trotzdem ist dieser Stall ein tolles Beispiel: Es zeigt die Möglichkeiten – ein völlig künstliches Habitat ist möglich.

 

Weiterlesen? Werner Lampert erläutert im Interview, warum Mensch und Rind auf Gedeih und Verderb voneinander abhängig sind.

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