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Erster Teil des BIORAMA Lebensmittel Fokus: Martin Haiderer, Gründer und Obmann der Wiener Tafel, im Interview mit BIORAMA über den Start von myfoodsharing.at.

 

BIORAMA: Wie funktioniert myfoodsharing.at? Was sind die Unterschiede zum System in Deutschland?

Martin Haiderer: Myfoodsharing.at ist eine Webpage, die als virtueller Tausch-Platz – im Sinne von Tauschen und Teilen – von genusstauglichen, einwandfreien Lebensmitteln dient. Durch die Online-Plattform werden jene Menschen vernetzt, die durch Teilen und Tauschen verhindern möchten, dass gute, genusstaugliche Lebensmittel vernichtet werden.

Wie kann man mitmachen? 

Wer Lebensmittel kostenlos abgeben möchte, stellt einen „elektronischen Warenkorb“ ins Netz. Potenzielle ÜbernehmerInnen wählen einen virtuellen Lebensmittelkorb in ihrer Nähe und holen die Nahrungsmittel kostenlos ab. Beiden ist gedient und die Umwelt wird geschont: Wertvolle Ressourcen werden sinnvoll eingesetzt, statt im Müll zu landen! „Fairteiler“, also organsierte konkrete Tauschplätze, dienen ebenfalls dem gezielten Tausch von Lebensmitteln. Den ersten Fairteiler Österreichs etabliert Michaela Russmann von der Bio.Werkstatt in der Biberstraße 22, 1010 Wien.

Ein ganz konkretes Beispiel: Ich habe 250 ml Schlagobers, das morgen ablauft. Was mache ich damit?

Zuallererst muss ich klären: Was läuft ab? Das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) oder das Verbrauchsdatum? Ist das Mindesthaltbarkeitsdatum kurz davor, abzulaufen, sagt das über die Güte des Lebensmittels nicht zwingend etwas aus. Das MHD ist eine Garantie des Herstellers, dass bis zum angegebenen Zeitpunkt, in Verbindung mit der angegebenen Lagertemperatur, das Lebensmittel die vom Hersteller bestimmte Qualität und den mikrobiologischen Zustand behält. Ist das MHD abgelaufen, ist es so, als ob man das Produkt selber hergestellt hat und man auch die volle Verantwortung dafür trägt. Allerdings ist auch jedem bekannt, dass zum Beispiel bei einem Joghurt, welcher sieben Tage nach Ablauf des MHDs verspeist wird, sich vielleicht ein wenig Wasser abgesetzt hat oder die Farbe der Fruchtmischung durchscheint, genießbar ist er aber immer noch.

Ist das Schlagobers originalverpackt und durchgehend gekühlt gewesen, kann man davon ausgehen, dass es einwandfrei ist und es bedenkenlos weitergeben: auf myfoodsharing.at einen Essenskorb einrichten und mit den Angaben über das Produkt jemandem anbieten, der vorbeikommt, um es sich abzuholen. Gibt es einen Fairteiler in der Nähe, kann man dort vorbeigehen und das Obers für jemanden deponieren, der sich über ein kostenloses gutes, genusstaugliches Lebensmittel freut.

Wie ist die Idee generell entstanden? Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Filmemacher und Foodsharing-Pionier Valentin Thurn, um das Konzept auch in Österreich umzusetzen?

Die Wiener Tafel rettet bis zu drei Tonnen Lebensmittel pro Tag vor dem Müll und versorgt mit den wertvollen Warenspenden von 180 Unternehmen aus Industrie, Handel und Landwirtschaft 12.000 Armutsbetroffene in 85 Sozialeinrichtungen im Großraum Wien. Neben dem sozialen Transfer gehört Bewusstseinsbildung zu den Kernaufgaben der Wiener Tafel: Mit einer Vielzahl an Maßnahmen machen wir eine breite Öffentlichkeit darauf aufmerksam, dass Lebensmittel eine wertvolle Ressource darstellen. Lebensmittel gehören in den Magen nicht in den Müll! In diesem Sinne ist die Wiener Tafel mit dem Dokumentarfilmer Valentin Thurn bei der Österreich-Premiere seines Filmes „Taste the Waste“ in Kontakt getreten. Aus diesem ersten Kennenlernen ist die Zusammenarbeit für myfoodsharing.at geworden. Schließlich kann jede und jeder neben dem sozialen Transfer und dem Mitbauen an der tragfähigen Brücke zwischen Überflussgesellschaft und Bedarfsgesellschaft im privaten Bereich dazu beitragen, dass Lebensmittel nicht verschwendet, sondern verwendet werden.

Wie erfolgreich ist das Projekt in Deutschland? 

Ein knappes halbes Jahr nach dem Start von foodsharing.de konnten die Organisatoren Millionen von Seitenaufrufen verzeichnen,  18.000 Menschen, die sich registriert haben und Anfang Juni bereits über  5.000 Kilogramm Essen, das vor dem  Müll gerettet worden ist. Allein in den ersten 24 Stunden nach dem Relaunch haben sich mehr als 50.000 Leute die Seite foodsharing.de angesehen. Sie bleiben durchschnittlich rund fünf Minuten. Fast 24.000 Facebook-Fans hat die Seite inzwischen. Am 31. Mai konnten wir gemeinsam mit Umweltminister Nikolaus Berlakovich und Valentin Thurn myfoodsharing.at für Österreich freischalten.

Welche Teilnahme erwarten Sie für Österreich?

Bis jetzt haben sich bereits weit über 1.000 Menschen auf der Seite registriert und in 17 österreichischen Städten konnten knappe 100 Kilogramm vor dem Müll gerettet werden. Die Wiener Tafel ist sehr zuversichtlich, dass mit der innovativen und leicht zu nutzenden Website myfoodsharing.at auch in Österreich eine sehr erfolgreiche Möglichkeit, mit Lebensmitteln nachhaltig und verantwortungsbewusst umzugehen, geschaffen wurde.

Machen Sie persönlich mit beim Foodsharing?

Schon bevor dieses grundgescheite Konzept eine so innovative und technisch ausgereichte Lösung gegossen wurde, haben wir in der Wiener Tafel im kleinen Stil Foodsharing betrieben. Wenn man täglich so wie wir in der Wiener Tafel mit der erdrückenden Realität von Lebensmittelernichtung und gleichzeitiger Armut in unserem Land konfrontiert ist, entwickelt man ganz automatisch Sensibilität für das Thema und bemüht sich, bereits beim Einkaufen, mit Augenmaß zu agieren. Nichtsdestotrotz: Niemand ist perfekt! Und wenn einmal was übrig bleibt: Mit ein bisschen Kommunikation findet sich rasch eine Abnehmerin oder ein Abnehmer für gute Lebensmittel!

Warum glauben Sie, die Menschen werden den Aufwand und die Mühe nicht scheuen Lebensmittel einzutragen, sich Abhol-Zeitpunkte auszumachen etc., wenn der durchschnittliche Konsument doch so schwer zu motivieren ist, mehr Zeit, Geld oder Aufwand für die nachhaltigere Alternative aufzuwenden?

Die technischen Kommunikationsmittel Smartphone und Rechner bringen auch jüngere Zielgruppen zum Nachdenken, Handeln und Kommunizieren. Myfoodsharing.at ist auch eine Möglichkeit, nette Leute kennenzulernen. Gemeinsam Kochen und Genießen sind ja auch Möglichkeiten, eine gute Zeit zu haben. Und der Weg zur Arbeit vorbei an einem Fairteiler ist im besten Fall auch kein nennenswerter Mehraufwand, der jedenfalls den Vorteil bietet, mit einem guten Gefühl in den Tag zu gehen.

Denken Sie, die Zukunft der Nachhaltigkeitsbewegung liegt in der Vernetzung von Privatpersonen? Warum hier statt bei den Unternehmen ansetzen?

Es ist keine Frage des „entweder oder“, sondern des „sowohl als auch“. Die Wiener Tafel kooperiert seit 14 Jahren sehr erfolgreich mit der Wirtschaft – mit Industrie, Handel und Landwirtschaft. Langjährige Partnerschaften sind das Produkt von Überzeugungsarbeit und Vertrauensbildung. Aber: Jede Unternehmerin, jeder Unternehmer ist auch Privatperson. Wer in seinem privaten Alltag nachhaltig denkt und handelt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit seine persönliche Überzeugung auch im unternehmerischen Tun verwirklichen.

Wie greift Foodsharing das Problem an der Wurzel an? Nämlich, dass wir oft zu viel einkaufen bzw. nicht haushalten können?

Die Wiener Tafel arbeitet daran, dass der Wert von Lebensmitteln spürbar und erlebbar wird. Dazu dienen viele Maßnahmen, die neben der Kernaufgabe des Sozial- und Umweltvereins geleistet werden. Myfoodsharing.at ist eine Möglichkeit von vielen, dieses Bewusstsein für die Verantwortung jeder und jedes Einzelnen zu schaffen. Foodsharing packt das Problem insofern an der Wurzel, als eine sinnvolle Lösung für ein globales Problem im direkten Handlungsbereich der einzelnen Handelnden angeboten wird. Und das losgelöst von der Schuldfrage. Wer noch nicht gelernt hat geplant einzukaufen und klug zu haushalten, der bekommt die Möglichkeit dazu – mit viel Information und einfach verständlichen und sinnvollen Lösungen!

 

Neugierig geworden? Hier geht’s zu myfoodsharing.at

Allgemeines über den BIORAMA Lebensmittel Fokus

Ein Interview über die Wiener Tafel  ist im zweiten Teil des BIORAMA Lebensmittel Fokus zu lesen.

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